So stand Lothar Vetter (l.) viele Jahre auf der Zeil bei den Sammelaktionen der FR-Altenhilfe, hier mit Pit Gläser an der Drehorgel. (Bild: Georg Kumpfmüller)

Es gibt Erinnerungen, die ihn nicht loslassen. Als junger Reporter der Frankfurter Rundschau berichtete Lothar Vetter 1963 vom Auschwitz-Prozess. Der Name und die Taten des für seine Grausamkeit berüchtigten SS-Rapportführers Oswald Kaduk sind ihm noch präsent.

Zum besonderen Thema aber des jungen Journalisten geriet die Arbeitswelt, die damals nicht viel Aufmerksamkeit fand. Für seine FR-Reportage „Auf dem Leib sind sie manchmal gekrochen“ über die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle der Frankfurter U-Bahn erhielt er 1968 den Theodor-Wolff-Preis, die höchste Auszeichnung im deutschen Journalismus. Am 6. Juni feierte der frühere FR-Lokalchef und „Vater“ der FR-Altenhilfe seinen 90. Geburtstag.

Im Garten seines Domizils im Stadtteil Oberrad blättern wir im Gespräch das Leben des Journalisten auf, gelegentlich übertönt vom Dröhnen und Donnern der Flugzeuge über dem Haus. Der Flugverkehr kommt zurück, je mehr die Corona-Pandemie weicht. Den Mann im Silberhaar, der seit 1962 hier wohnt, beeindruckt das nicht. Er hat im Alter von dreizehn Jahren die blutigen Kämpfe am Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt und den Einmarsch der US-Truppen in seine Heimatstadt Sonneberg in Thüringen.

Als die US-Soldaten den Marktplatz erreichten, warfen sie dem Jugendlichen Schokolade zu. Doch die US-Truppen zogen wieder ab, weil der Ort der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde. Bald stand der Katholik „fürchterlich“ im Widerspruch zur Politik der jungen DDR. 1952 floh er nachts über die grüne Grenze in den Westen: „Ich kannte alle Schleichwege.“ Denn bevor er selbst ging, war er als Fluchthelfer tätig, hatte gar einen Bischof außer Landes geschmuggelt.

In Würzburg studierte er Germanistik, arbeitete, um das Studium zu finanzieren, in der wieder aufgebauten Schweinfurter Kugellagerfabrik unter harten Umständen. „Die Arbeiter sagten zu mir: Vergiss nie, was Du hier siehst!“ Vetter wollte schreiben über diese Welt. Er ging 1959 zur Frankfurter Rundschau. Als FR-Chefredakteur Karl Gerold von den Erfahrungen des jungen Mannes hörte, wies er ihm eine besondere Aufgabe zu: „Vetter, Du wirst Dich um unsere Alten kümmern!“

So kam Lothar Vetter zu seiner Berufung, die über die Jahrzehnte seine Leidenschaft wurde: die FR-Altenhilfe. Mit schwarzem Hut und rotem Schal als Markenzeichen war er das Gesicht der Hilfsaktion für alte und bedürftige Menschen. Vetter spielte die Gitarre und sang, gemeinsam mit dem Drehorgelmusiker Pit Gläser, die Songs von Bertolt Brecht, etwa die Moritat von Mackie Messer: „Denn du siehst nur die im Lichte, die im Schatten siehst du nicht!“

Für seine unzähligen Sammelaktionen unter freiem Himmel, auch bei bitterer Kälte, holte sich der Journalist prominente Unterstützung: von Oberbürgermeisterin Petra Roth über Volksschauspielerin Liesel Christ bis zu Johnny Klinke vom Varietétheater „Tigerpalast“ und Clown Oleg Popov. Anfang der 70er Jahre engagierte Vetter zur Unterstützung die populäre Jazzband Red Hot Hottentots. Das erwies sich als Coup: Mehr als 40 Jahre spielten die Jazzer mit Gästen aus Deutschland für die FR-Altenhilfe, die Konzerte in der Katharinenkirche wurden legendär.

Vetter selbst schrieb Hunderte Reportagen über alte und kranke Menschen in der Stadt, die von der Altenhilfe unterstützt wurden. Er sah Elend, offene Wunden, blutige Betten, verwahrloste Wohnungen. Auch nach dem Ruhestand 1996 blieb er für die FR-Hilfsaktion aktiv. Es gab nur etwas mehr Zeit für die zweite Leidenschaft des Rastlosen: das Hochseesegeln. Auf seinen großen Touren, etwa von Rio de Janeiro zu den Kanaren oder hoch zum Polarkreis, fand er die Ruhe, die er suchte. Viele Menschen haben Lothar Vetter viel zu verdanken. Claus-Jürgen Göpfert