Bild: Peter Jülich

Ein bisschen, das gibt sie zu, verklärt sich der Blick, wenn sie an die „gute Zeit am Bahnhof“ zurückblickt.

Am Bahnhof, das ist für Brigitta O. das Viertel um die Kaiserstraße, mit Bordellen und Kneipen, wo Tag und Nacht das Leben tobt. Wo man sich kannte in der Gastro-Branche, wo sie das Leben mit all den Bekannten wie eine große Familie empfand.

Sie, die woanders Familie nie wirklich erlebt hatte. Die Mutter von Brigitta O. ist bei der Geburt 42, der Vater stirbt ein Jahr später, ein Stiefvater kommt ins Haus. In Köppern geboren, absolviert sie die Volksschule in Bad Homburg, im Lehrvertrag danach steht Einzelhandelskaufmann.

Mittendrin wird sie mit 17 schwanger, da arbeitet sie im Modehaus. Vom Vater des Kindes erinnert sie, dass er schon 28 ist damals, es für ihn die zweite Ehe und er ein rechter Schluri war. Keine gute Voraussetzung, die Ehe wird nach drei Jahren geschieden.

Das Kind, ein Bub, kommt direkt nach der Geburt zu Mutter und Stiefvater ins Haus, Brigitta O. lebt in einer Mini-Wohnung in Frankfurt, der Vater des Kindes irgendwo anders. O. wechselt in ein Modehaus in der Goethestraße, später zu einer Versicherung. Da arbeitet sie schon am Wochenende in der Gastronomie, es gab gutes Geld zu verdienen.

Hätte sie noch in ein anderes Leben wechseln können? Sie hat sich die Frage immer mal gestellt, auch ob sie das gewollt hätte. Als der Sohn 13 ist, stirbt ihre Mutter, sie kehrt ins Elternhaus zurück. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist nicht gut, mit Erreichen der Volljährigkeit schmeißt er sie aus dem Haus, so beschreibt sie es.

Sie geht zurück nach Frankfurt, hier ist sie willkommen. Am Bahnhof war für die heute 73-jährige Brigitta O. über die Jahrzehnte immer ein Platz frei. Das hatte ihr mal einer der Platzhirsche der Gastro-Szene gesagt, als sie sich abgemeldet hat, um einen Alkoholentzug zu machen.

Sie ist 45 Jahre alt, ein Jahr später ist sie wieder da. Seit 27 Jahren ist sie clean, seit 20 Jahren hat sie keine Kippe mehr geraucht. Dummerweise war der zweite Mann, den sie geheiratet hat, nach kurzer Trockenphase schnell wieder „Alki“. Das ging nicht gut, sie leben seitdem in getrennten Wohnungen, sie in Oberrad, er in Bornheim, kümmern sich aber umeinander.

Die Kneipen bleiben ihre Heimat, das Geld kommt rein und geht wieder raus, so ist das Leben halt. Wer guckt da schon auf später? Die Branche hat ihr Personal nie hoch angemeldet, so fällt auch bei Brigitta O. der Rentenbescheid aus. Um die 500 Euro, das ist bitter nach all den Jahren am Zapfhahn und in der Bedienung.

Ohne Grundsicherung wäre sie verloren. „E bissi verpfuschtes Leben“ sei das schon, sinniert sie, aber sie wollte immer das Beste draus machen. Ihre FR-Altenhilfe für dieses Jahr geht wohl für die Sanierung der Zahn-Implantate drauf. Jürgen Streicher