Bild: Altenhilfe

Mit seinen 82 Jahren ist Wilfried S. noch jeden Tag mit dem Fahrrad unterwegs.

Er fährt von seiner Wohnung im Oberurseler Norden ein kleines Stück zur U-Bahn-Station, dann wegen der „kleinen Arthrose“ mit der U3 nach Frankfurt und da weiter mit dem Rad zur Tafel. „Das Fahrrad benutze ich als Rollator“, erklärt er, zu Fuß ist er nicht mehr gut unterwegs.

Die Tafel in Frankfurt ist günstig, „da gibt’s ein Mittagessen für einsfünfzig“. Er habe halt „so gut wie kein Geld“, das muss er mal sagen, jedes einzelne Wort betont: „Ich lebe von Sozialhilfe.“

Mit Blick auf sein Leben verwundert das nicht, in Richtung auf eine Rente ist er nie gesteuert. „Ich lebe von nix und davon sehr gut“, das hat er sich in jungen Jahren als Philosophie zurechtgelegt, ein Freigeist wollte er immer sein. „Ich will nichts beklagen“, sagt er heute, zehn Jahre habe er ja noch, der Vater sei 90 geworden.

Ein „Orscheler“ ist Wilfried S. nicht, nach Oberursel kam er erst vor 15 Jahren. Geboren in Erfurt, „vor der DDR“, ist er in Rendsburg und später in Wetzlar aufgewachsen, weil der Vater beruflich dorthin versetzt wurde.

Mit sich selbst einig ist er mit Blick auf die Jugend nicht wirklich. Es sei wohl eher die Zeit in Hessen gewesen, „die mein Ich geprägt hat“. Da hat er mit Mühe die Mittlere Reife mit Note 4 geschafft, danach die Handelsschule mit einer kaufmännischen Ausbildung absolviert, den „Ernst des Lebens“ gespürt, aber sich noch immer nicht als „großes Ich“.

Sein späteres Zauberwort lautet Autogenes Training, Übungen zur Entspannung, die in der Volkshochschule vermittelt wurden. Tagsüber war S. im Außendienst unterwegs, hat Büromaschinen verkauft, abends saß er in Frankfurt in Seminarräumen und hat sich inspirieren lassen. Stets in der letzten Reihe sitzend, mit geschlossenen Augen.

Mit dem Dozenten konnte er gut, er wurde sein Lehrling und stand plötzlich selbst vorne, als der Kursleiter zu spät kam. Dann wird die Geschichte ein wenig skurril. Wilfried S. nennt sich Psychologe, ohne Abi, Uni, Studium, hat eine Praxis, bietet Beratung und Kurse an, ab und zu kommen auch studierte Kollegen beim Freigeist vorbei. „Die wussten es alle, deswegen kamen sie ja.“

Er habe gegen keine Gesetze verstoßen, sogar ein Praxis-Schild am Haus angebracht. In dieser Zeit kommt auch „sie“ in sein Leben und „schwupps waren wir drei mit einem Sohn“. Als noch andere Damen ins Spiel kamen, „hat sie gekündigt“, das konnte der Freigeist verstehen. Nach der Scheidung noch „zwei gute Beziehungen, die letzte Frau ist dann vor zehn Jahren abgehauen“.

Seitdem lebt Wilfried S. allein mit einer Katze. Und freut sich stets auf Weihnachten und die Unterstützung der FR-Altenhilfe. Da kann er sich ein paar Kleinigkeiten leisten, dieses Jahr eine ÖPNV-Fahrkarte, mit der er in ganz Hessen herumfahren kann. Jürgen Streicher