Bild: Bernd Fickert

Heute ist Inge Sch. ein zufriedener Mensch. Trotz eines kürzlich erlittenen Beckenbruchs, trotz eines Daseins am Limit. Anderthalb Tage habe sie nach dem Unfall in der Wohnung gelegen, so die 80-Jährige, bevor die Feuerwehr zu Hilfe gekommen sei.

„Ich habe ja niemanden.“ Durch die Unterstützung der Altenhilfe konnte die Frankfurter Sozialwohnung – „endlich!“ – mit einem neuen Bett bestückt werden. „Hier wohne ich seit 1971“, sagt Inge Sch. und erzählt, dass sie schon damals mit ihren beiden Kinder an der Armutsgrenze lebte.

Ein halbes Jahrhundert später bezieht Inge Sch. eine Mini-Rente plus Grundsicherung, die Miete „wird vom Amt bezahlt“. Etwa 300 Euro sichern das monatliche Leben. „Zwei Mal im Jahr fülle ich auf Vorrat meine Tiefkühltruhe“, sagt sie, die noch jeden Tag am Herd steht und neuerdings von einer Haushaltshilfe entlastet wird.

Wenn die 80-Jährige ins Erzählen kommt, ihre Erlebnisse schildert, wird es bitter. 21 Jahre hat sie in Heimen verbracht – „von der 6. Lebenswoche bis zur Volljährigkeit“. Zur Welt gekommen in einem wohlhabenden Elternhaus in Sachsenhausen, wird das Neugeborene schnell weggegeben. Ihr Vater, ein erfolgreicher Gastronom, will die Tochter nicht.

Mehr als 30 Einrichtungen werden zur vorübergehenden Heimat, darunter „schlimme Adressen“. Noch bevor Sch. diese Existenzphase hinter sich lassen kann, ist sie Mutter von zwei Buben. Weil ihr die Kinder von Amts wegen entzogen werden sollen, flüchtet sie zu einer Tante in den Westerwald, wo Missbrauch herrscht und kein Bleiben ist.

Zurück in Frankfurt, lässt sie sich gezwungenermaßen auf eine Zufallsbekanntschaft samt Heirat ein, wird aber „böswillig verlassen“ – woraufhin die vaterlose Familie aber in eine Wohnung umziehen darf. „Lange habe ich dann in einer Schöppchen-Kneipe im Bahnhofsviertel gearbeitet.“

Die Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft zu „Moseleck“ und „Meier-Gustl“ endet jäh, als ihr ältester Sohn in Gießen „totgemacht wird“. Vier Jahre liegt er im Koma, die junge Mutter besucht ihn fast jeden Tag. Auch der zweite Sohn bleibt ihr nicht erhalten: „Seit 14 Jahren ist er nun verschollen.“ Schicksalsschläge, die Inge Sch. zu ertragen gelernt, aber kaum verwunden hat.

Viele Erinnerungen kommen immer wieder hoch: „Im Monikaheim haben sich 40 junge Frauen einen Schlafraum und einen Blecheimer geteilt.“ Im Bett nebenan liegt Rosemarie Nitribitt, „ein Mädchen wie wir alle“. Gemeinsam seien sie dann geflüchtet – „wie so oft“. Im Gedächtnis bleiben auch das Wohnwagenlager in Bonames – „wo ich hoffte, meine Mutter zu finden“ – und das Bad Homburger Waisenhaus.

Von all den schweren Prüfungen hat sich Inge Sch. nicht verbittern lassen. Konnte sie im vergangenen Jahr noch täglich 25 Kilometer mit dem Fahrrad absolvieren, gehören heute Stricken und Häkeln zum Alltag. Vor kurzem hat die Altenhilfe-Zuwendung den Austausch des noch aus den 1970er Jahren stammenden Kühlschrank möglich gemacht. „Da habe ich geweint vor Glück,“ sagt sie. Olaf Velte