Bild: Bernd Fickert

Es liegt so vieles im Nebel beim gedanklichen Reisen durch jetzt doch schon 72 Jahre Leben. Vernebeltes Land, ungeklärte Zeiten, die Jahre sind dahingegangen, im Rausch, irgendwann in Halluzinationen.

Bis die Angst stärker war als alles, und Ulf M. wieder gelandet ist auf dem Boden der Ernüchterung. Und laut geschrien hat: „Ich will!“ Nicht „ich muss“, das war ganz wichtig, sondern „ich will“. Das war vor knapp 13 Jahren, seitdem hat er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Weil er nicht mehr will.

„Du bist verantwortlich“, das war sein spät erkanntes Mantra, als er endlich aus dem Elternhaus auszog, in dem er viel zu lange eine Ein-Zimmer-Heimat hatte. Da hat er die Nächte verbracht, nach der Arbeit als Dreher und Former, als Schleifscheibendreher und Maschinist. Nach dem Trinken, das sich über Jahre, ach was, über Jahrzehnte zum Alkoholismus ausgewachsen hat.

„Was soll ich sagen, wir waren gedankenlos“, sagt Ulf M. im Rückblick. „Haben es übertrieben, nicht an die Konsequenzen gedacht.“ Wir? Das waren erst die Kumpels in der Jugend, später Arbeitskollegen und andere Findlinge in den Kneipen und wo auch immer.

Die „ersten Anzeichen“ habe er nicht registriert, sagt Ulf M. heute. Mit anderen hat er nie gelebt. Mit Mädels ist nie was gelaufen, das hat er nach zwei gescheiterten Versuchen für immer aufgegeben. Man kann auch ohne Sex unglücklich werden. Es hat ihm keiner gesagt, wo er da hinrast mit seinem Leben. Bis mit „akustischen Halluzinationen“ die Hölle losbrach und die „Angst plötzlich stärker war als alles“.

Mit 45 Jahren rutscht er in die Arbeitslosigkeit. Es folgen Entgiftung, kalter Entzug, psychologische und neurologische Behandlung. Hier und da Jobs, mit 52 geht er in Erwerbslosenrente. Er muss 60 werden, bis er endlich für sich verstanden hat, worum es eigentlich geht. Als die Zukunft nur noch schwarz daherkommt.

Nur die Vergangenheit ist ewig. Mit Schopenhauer ist sich Ulf M. einig. „Unser einziges Paradies ist die Erinnerung“, mit dieser Philosophie geht es ihm leidlich gut. „Ich kann mich ganz gut leiden“, sagt er. „Ich bin daheim, hab meine Ruhe, bin mir allein genug. Ich will nix mehr.“

Die Bilder und Erinnerungen an früher erhellen das Leben. „Als Kinder waren wir glücklich“, sagt Ulf M. Sechs Geschwister waren sie in den 50er Jahren in Offenbach. „Ich bin stolz auf meine Eltern“, sagt er, nennt sie „Helden des Alltags“.

Im Frankfurter Straßenbahndepot hat der Vater gearbeitet, die große Familie fast allein ernährt. „Wir hatten alles, waren nicht so anspruchsvoll.“ Heute lebt Ulf M. in einem Zimmer in Rödelheim von kleiner Rente plus der Grundsicherung; ein Bruder ist noch geblieben, der kommt noch zu Besuch.

„Ich bin im Spätherbst“, da ist er ganz nüchtern. Den Alkohol wollte er aufgeben, die Kippen nicht. Auch wenn er mit seinen fünf Stents nach 100 Meter Laufen fünf Minuten Pause machen muss. Die FR-Altenhilfe bringt seit Jahren ein bisschen Licht in sein Paradies. Jürgen Streicher