Kürzlich hat sich Annemarie G. „riesig gefreut“. Zu ihrem 81. Geburtstag hat die Bad Sodenerin einen Gutschein der Altenhilfe bekommen.
„Da sind mir die Tränen gekommen“, sagt die Frau, die zusammen mit ihrem Ehemann von etwa tausend Euro Rente plus Grundsicherung leben muss. Familiäre Schwierigkeiten belasten die angespannte Situation zusätzlich.
Seit Jahren sei, so wird erzählt, das Verhältnis zu Sohn und Schwiegertochter arg getrübt. Nach Übergabe der im Familienbesitz aufgebauten Metzgerei herrsche Funkstille zwischen den Generationen. Das Ehepaar G. darf die Betriebsräume nicht mehr betreten, nur das Insitzrecht im Dachgeschoss des Stammhauses erlaubt das Leben in den eigenen vier Wänden.
„Der Wintergarten ist mein Keller und meine Waschküche.“ Ein Zustand, der den beiden Rentnern mehr zugesetzt hat als Altersarmut oder gesundheitliche Einschränkungen.
Von den 300 monatlich verbleibenden Euro werden Lebensmittel auf Discount- und Angebotsbasis erworben. „Ich mache aus allem etwas“, so die 81-Jährige, die ihren Haushalt noch selbst bewältigt. Sogar ihre vor vier Monaten absolvierte Rücken-Operation ist ihr kaum der Rede wert.
Derzeit sorgt sich Annemarie G. eher um ihren Mann, den sie am 15. Oktober 1959 kennengelernt und, wie sie sagt, nie mehr hergegeben hat: „Er hat Probleme mit der Luft und muss wegen einer Herzbehandlung ins Krankenhaus.“ An ausgedehnte Spaziergänge ist derzeit jedenfalls nicht zu denken.
Aufgewachsen ist Frau K. im Kreis Fritzlar/Homberg, wo die Arbeitsplätze für Frauen rar sind. Es sind die 1950er Jahre. „Eine meiner Schwestern kam in Stellung in einem Metzgerbetrieb in Bad Soden.“ Nicht lange, und eine weitere Schwester folgt der ersten in den Main-Taunus-Bezirk.
Dass die Metzgersleute zu der Konfirmation von Annemarie ins Oberhessische eingeladen sind, entscheidet schließlich die Lebensbahn der 14-Jährigen. „Ich wurde kurzerhand nach Bad Soden mitgenommen.“ Wo die junge Frau nicht nur das Handwerk kennenlernt, sondern auch ihren späteren Mann. „Der arbeitete damals bei der Konkurrenz.“
Das Paar träumt von der Selbstständigkeit, dem eigenen Laden, arbeitet unermüdlich und stürzt sich in Schulden. Irgendwann gesellen sich zwei Filialen zu dem Ur-Geschäft, sind 15 Mitarbeiter an Bord, wird kurz vor der Jahrtausendwende nochmals groß angelegt und gebaut.
Heute ist der Glanz jener Jahre verblasst. Dass der Sohn nach einem schweren Arbeitsunfall den Kontakt zu den Eltern kürzlich erneut aufgenommen hat, ist ein Hoffnungsschimmer: „Es wird wieder gegrüßt.“
Auch zum diesjährigen Handwerksball ins Bad Homburger Kurhaus ist das Ehepaar eingeladen. Der frühere Innungsprüfer G. soll mit dem „Goldenen Meisterbrief“ geehrt werden. Eine feierliche Gelegenheit abseits des Alltags, die entsprechend begrüßt wird: „Wir sind sehr froh!“ Olaf Velte