Bild: Michael Schick

Die Flucht der Mutter in ein neues Leben war auch ihre Befreiung. Es hat sich alles so ergeben damals, Anfang der 1970er Jahre.

Die Mutter im November zur Kur im Harz, ein „Kurschatten“ kreuzt den Weg, wenig später fällt die Liebe der Mutter nach Wiesbaden. Grit B. fällt mit aus dem hohen Norden ins Hessenland. Nutzt ihre Chance zur Flucht. Knapp 18 Jahre alt ist sie da, noch ein Jahr bis zum Abi, bis dahin träumt sie vom Architektur-Studium.

Aber der Befreiungsschlag musste sein, war die Chance, „endlich zu leben“. Das Leben unter dem Dach der Neuapostolischen Kirche in ihren jungen Jahren zwischen Hamburg und dem Aufwachsen in Kiel hat sie als Gefängnis erlebt. „Ich durfte nichts, nicht ausgehen, keine Party“, ein Leben unter absoluter Kontrolle.

Aufs „Hochzeitsschiff“ durfte sie mit, eigentlich musste sie mit. Da sollten sich junge Leute aus der Gemeinde kennenlernen, möglichst unter sich bleiben. „Ich habe Glück gehabt, keinen gefunden“, sagt sie heute.

Und dann am zweiten Tag in Wiesbaden die Begegnung mit dem Freund des Sohnes des „Kurschattens“. Für Grit B. der Beginn ihrer „Grunderneuerung“. Mit ihm wird sie 20 Jahre verheiratet sein, „Zehn Jahre gut, die nächsten zehn Jahre nicht so gut.“

Ein Jahrespraktikum in einem Kindergarten ist ausgemacht. Die junge Frau will mit Kindern arbeiten, will eigene Kinder haben, am besten viele. Bloß kein Einzelkind, wie sie es war.

Grit B. muss stark sein in den nächsten Jahren. Sie bekommt drei gesunde Kinder, aber sie muss auch den Verlust von vier ungeborenen Kindern verkraften. Ist noch heute froh, dass sie das „geschafft hat“, in den guten Jahren der Ehe.

Die Mauer fällt, der Mann sucht Geschäftsglück mit einem Kollegen in Görlitz, sie bauen eine Versicherungsagentur auf. Das Leben schwankt zwischen Ost und West. „Die Ossi-Weiber waren scharf auf Wessi-Männer, da begann unser Untergang“, resümiert Grit B. nüchtern. Am Ende steht die Scheidung, sie wollte es so. Ist mit drei halbwüchsigen Kindern allein, ohne abgeschlossene Ausbildung, ein bisschen Bürokauffrau hat sie in den guten Zeiten gelernt.

Aber Grit B. schlägt sich mit ihrem „Grundoptimismus“ durchs Leben. Und mit Spiritualität, dem Glauben an Engel, die ihr helfen. Aus der alten Kirche ist sie längst ausgetreten und bis heute im Reinen mit sich und der Entscheidung.

Drei Jahre nach der Scheidung kommt ein neuer Mann in ihr Leben, Liaison ohne Ehe, auch für 20 Jahre mit ähnlicher Aufteilung. Auf zehn gute Jahre folgen harte Jahre mit einem depressiven Mann; er hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen.

„Ich genieße das Leben“, sagt die 67-jährige Grit B. heute. Die karge Erwerbsminderungsrente, die sie wegen einer Trigeminusneuralgie seit ein paar Jahren bekommt, reicht hinten und vorne nicht. Aber sie hat ihre Engel und sechs Enkel, die 88 Jahre alte Mutter, die nicht weit entfernt allein lebt, betüddelt sie auch noch mit.

Einen „Segen“ nennt sie den ersten Kontakt mit der FR-Altenhilfe vergangenes Weihnachten. „Ein Geschenk der Engel.“
Jürgen Streicher